AMPLITUDE: Das Handbüchlein für Gärtner:innen – Anhang
Der Notfall-Koffer.
Karte 0: Anleitung
Teams und Organisationen haben vier Grund-Energien. Manchmal dominiert eine davon und blockiert alles. Dieses Kartenset hilft dir, die Blockade zu spüren und eine kleine, sichere Störung einzuführen, um das System wieder in Bewegung zu bringen.
Wie es funktioniert:
- Spüren (der Sensor ist dein Körper): Schließe für 30 Sekunden die Augen. Atme. Frage dich: „Wie fühlt sich die Situation gerade wirklich an?“
- Wie
Nebel
? (Unklar, viele Optionen, keine Richtung) → Nimm dieNebel
-Karte. - Wie
Feuer
? (Dringend, gehetzt, alles brennt) → Nimm dieFeuer
-Karte. - Wie eine starre
Maschine
? (Alles nach Plan, aber leblos) → Nimm dieMaschine
-Karte. - Wie ein perfekter
Tanz
? (Alles fließt, aber droht zu überhitzen) → Nimm dieTanz
-Karte.
- Wie
- Auswählen: Nimm die passende Karte. Lies die 3 vorgeschlagenen „Störungen“.
- Stören: Wähle eine dieser drei Störungen aus – die, die sich am machbarsten oder interessantesten anfühlt. Führe sie noch heute aus.
Das ist alles.
Beobachte, was passiert. Du versuchst nicht, das System zu „reparieren“. Du stupst es nur an und lädst es ein, sich selbst neu zu organisieren.
Karte 1: Nebel
Symptom
Es fühlt sich an wie im
Nebel
oder wie schwereloses Treiben im All. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten und Ideen, aber keine hat genug Anziehungskraft. Wir reden viel, aber entscheiden nichts. Es ist nicht unangenehm, aber es bewegt sich nichts. Wir könnten ewig so weitermachen.
Diagnose
Die Nebel
-Energie ist zu dominant (> 70 %). Sie erstickt die Maschine
-Energie (Struktur) und die Tanz
-Energie (Momentum). Das System hat maximale Optionen, aber minimale Traktion. Es ist in der „Analyse-Paralyse“ gefangen und läuft Gefahr, durch fehlende Ergebnisse irrelevant zu werden.
Ziel der Störung
Nicht die beste Option finden, sondern überhaupt eine Bewegung erzeugen. Einen winzigen Anker der Gravitation in die Schwerelosigkeit werfen. Energie sanft bündeln, ohne das kreative Potenzial zu zerstören.
Drei kleine, sichere Störungen
Wähle eine und führe sie jetzt aus.
Störung 1: „Folge der Energie“
Die Aktion: Versammle das Team für 10 Minuten. Zeichne die Top 5 Optionen auf ein Whiteboard. Gib jedem drei „Energie-Punkte“ (als Klebepunkte oder Striche).
Die Regel: Jeder verteilt seine Punkte schweigend, basierend auf der Frage: „Welche dieser Optionen gibt mir persönlich gerade die meiste positive Energie, unabhängig davon, ob sie die richtige ist?“ Die Option mit den meisten Punkten wird für die nächsten 24 Stunden als Priorität 1 behandelt.
Warum es funktioniert: Diese Störung umgeht die rationale Analyse-Paralyse. Sie nutzt die kollektive Intuition (Fingerspitzengefühl) des Teams als einzigen enabling Constraint. Sie zwingt nicht zur endgültigen Entscheidung, schafft aber für 24 Stunden einen klaren Fokus und testet, ob die Energie trägt.
Störung 2: „Das 60-Minuten-Prototypen-Rennen“
Die Aktion: Wählt die zwei vielversprechendsten Optionen aus. Bildet zwei Teams. Stellt einen Timer auf exakt 60 Minuten.
Die Regel: Jedes Team muss innerhalb von 60 Minuten einen extrem simplen, greifbaren Prototyp seiner Option erstellen (eine Skizze auf einer Serviette, ein gefälschter Screenshot, ein 3-Satz-Pitch auf einem Post-it). Nach 60 Minuten wird präsentiert. Das Team entscheidet dann, welcher Prototyp mehr „Lust auf mehr“ macht.
Warum es funktioniert: Diese Störung durchbricht den „Wir müssen erst alles zu Ende denken“-Mythos. Der harte Zeit-Constraint zwingt zum Handeln und zur radikalen Vereinfachung. Das Schaffen eines Artefakts macht Ideen real und vergleichbar, was die Tanz
-Amplitude weckt.
Störung 3: „Die Zeitmaschinen-Frage“
Die Aktion: Stellt dem Team eine einzige, hypothetische Frage und gebt 15 Minuten Zeit, um sie im Stillen zu beantworten, bevor ihr darüber sprecht.
Die Regel: Die Frage lautet: „Stellt euch vor, wir sind in einer Zeitmaschine ein Jahr in die Zukunft gereist und unser Projekt ist grandios gescheitert. Schreibt die Schlagzeile der Pressemitteilung, die erklärt, warum wir gescheitert sind.“
Warum es funktioniert: Diese Störung (ein „Pre-Mortem“) verändert den Bezugsrahmen radikal. Anstatt nach der besten Option zu suchen (was zu Lähmung führt), sucht man nach den größten Risiken. Das Aufdecken der größten Ängste und Blockaden schafft oft sofort Klarheit darüber, welchen Weg man nicht gehen sollte, und macht so den Weg für die verbleibenden Optionen frei. Es fügt einen epistemologischen Constraint hinzu.
Karte 2: Feuer
Symptom
Es fühlt sich an wie
Feuer
. Alles brennt gleichzeitig. Wir rennen nur noch von einem Brandherd zum nächsten. Alles ist dringend, nichts ist wichtig. Panik und Adrenalin liegen in der Luft.
Diagnose
Die Feuer
-Energie ist zu dominant (> 70 %). Sie verbrennt alle anderen Energien und führt direkt in den Burnout. Das System ist überreaktiv und chaotisch gekoppelt. Es kann nicht mehr lernen oder steuern.
Ziel der Störung
Die Energie nicht löschen, sondern kanalisieren. Dem Chaos durch minimale, aber unmissverständliche Regeln (Governing Constraints) eine Form geben. Inseln der Ruhe schaffen.
Drei kleine, sichere Störungen
Wähle eine und führe sie jetzt aus.
Störung 1: „Die eine Sache“
Die Aktion: Versammle das Team (real oder virtuell) für exakt 5 Minuten. Stellt nur eine einzige Frage: „Was ist die _eine Sache, die, wenn wir sie in den nächsten 3 Stunden erledigen, den größten Druck aus dem System nimmt?“_
Die Regel: Schreibt diese eine Sache auf ein Whiteboard oder in den Chat-Header. Für die nächsten 3 Stunden ist jede Arbeit an etwas anderem verboten.
Warum es funktioniert: Diese Störung durchbricht die „Alles-ist-wichtig“-Illusion. Sie erzwingt eine radikale Priorisierung (Schwerpunkt) und schafft eine winzige, aber spürbare Insel der Kontrolle und des Fokus.
Störung 2: „Der eine Kanal“
Die Aktion: Verkünde für die nächsten 4 Stunden einen Kommunikations-Stopp auf allen Kanälen (E-Mail, alle Slack-Channels, Telefon) außer einem.
Die Regel: Wählt einen einzigen Kanal (z. B. einen neuen „Krisen-Channel“ in Slack oder einen physischen „War Room“). Jede, wirklich jede Kommunikation muss über diesen einen Kanal laufen. Eine Person wird zum „Gatekeeper“ dieses Kanals ernannt.
Warum es funktioniert: Diese Störung zerstört die chaotische Überkopplung. Sie reduziert den Informations-Overload radikal und zwingt das System, seine Kommunikation zu bündeln und zu fokussieren.
Störung 3: „Die erzwungene Pause“
Die Aktion: Stelle einen Timer für in 60 Minuten. Wenn er klingelt, wird die Arbeit für exakt 15 Minuten unterbrochen.
Die Regel: In diesen 15 Minuten ist es verboten, über die Arbeit zu sprechen oder Bildschirme anzusehen. Steht auf, geht ans Fenster, trinkt Wasser, atmet. Nach 15 Minuten geht es weiter.
Warum es funktioniert: Diese Störung durchbricht den Adrenalin-Zyklus. Sie beweist dem System, dass die Welt nicht untergeht, wenn man für einen Moment innehält. Sie ist eine Injektion von Ruhe und Perspektive in ein überhitztes System.
Karte 3: Maschine
Symptom
Es fühlt sich an wie in einer starren
Maschine
oder einem Gefängnis aus Regeln. Alles läuft nach Plan, ist sicher und vorhersagbar. Aber es gibt keine Luft zum Atmen, keine Energie, keine Freude. Jede Abweichung ist ein Fehler. „Das haben wir schon immer so gemacht“ ist das Gesetz.
Diagnose
Die Maschine
-Energie ist zu dominant (> 70 %). Sie hat die Nebel
- und Tanz
-Energien erstickt. Das System ist effizient, aber nicht effektiv. Es ist robust gegenüber bekannten Problemen, aber extrem fragil gegenüber unerwarteten Veränderungen. Es optimiert sich selbst zu Tode.
Ziel der Störung
Nicht das System zerstören, sondern ihm wieder das Atmen beibringen. Gezielt kleine Risse in der starren Fassade erzeugen, um Licht, Luft und neue Informationen (Entropie) hineinzulassen. Fluidität einladen.
Drei kleine, sichere Störungen
Wähle eine und führe sie jetzt aus.
Störung 1: „Der intelligente Regelbruch“
Die Aktion: Finde eine Regel oder einen Prozessschritt, der heute offensichtlich unsinnig oder ineffizient ist. Brich diese Regel bewusst und dokumentiere warum.
Die Regel: Du musst in der Lage sein, in einem Satz zu erklären, wie der Regelbruch dem übergeordneten Ziel (dem Intent) besser gedient hat als die Regeleinhaltung. Feiere diesen Regelbruch im Team.
Warum es funktioniert: Diese Störung durchbricht die „Regeln sind absolut“-Annahme. Sie testet die Stärke der Governing Constraints und beweist, dass menschliches Urteilsvermögen wertvoller sein kann als ein starrer Prozess. Es ist eine Injektion von Auftragstaktik.
Störung 2: „Das menschliche Meeting“
Die Aktion: Nimm das nächste Routine-Meeting (z. B. ein Weekly). Streiche die gesamte Agenda. Die einzige Regel für die erste Hälfte des Meetings lautet: „Wir sprechen nicht über den Inhalt der Arbeit, sondern darüber, wie sich die Arbeit anfühlt.“
Die Regel: Nutze Fragen wie: „Was hat dir diese Woche Energie gegeben? Was hat Energie geraubt? Wo fühlte es sich leicht an, wo schwer?“ In der zweiten Hälfte könnt ihr entscheiden, ob die ursprüngliche Agenda noch relevant ist.
Warum es funktioniert: Diese Störung ersetzt einen starren Governing Constraint (die Agenda) durch einen flexiblen Enabling Constraint (die Frage nach Energie). Sie durchbricht die mechanische Kopplung und lädt zu resonanter, menschlicher Kopplung ein, was die Tanz
-Amplitude weckt.
Störung 3: „Die externe Perspektive“
Die Aktion: Lade eine Person aus einem komplett anderen Unternehmensbereich (oder sogar von außerhalb der Firma), die nichts von eurem Projekt weiß, für 30 Minuten in euer nächstes Team-Meeting ein.
Die Regel: Diese Person darf nur eine einzige Aufgabe haben: Zuhören und am Ende die „dümmsten“ oder naivsten Fragen stellen, die ihr einfallen. Eure Aufgabe ist es, diese Fragen ernsthaft zu beantworten.
Warum es funktioniert: Diese Störung durchbricht die „So ist das hier eben“-Epistemologie. Sie injiziert externe, unvorhersehbare Entropie und zwingt das System, seine tiefsten, oft unsichtbaren Annahmen (Big Assumptions) zu rechtfertigen. Sie weckt die Nebel
-Amplitude.
Karte 4: Tanz
Symptom
Es fühlt sich an wie ein perfekter
Tanz
oder ein Rausch. Alles fließt mühelos, das Team ist perfekt synchronisiert, die Zeit vergeht wie im Flug und die Ergebnisse sind brillant. Wir fühlen uns unbesiegbar. Es ist fast zu gut, um wahr zu sein.
Diagnose
Die Tanz
-Energie ist zu dominant (> 70 %). Das ist ein wunderbarer, aber gefährlicher Zustand. Das System ist hoch performant, läuft aber Gefahr, sich selbst zu verbrennen. Es ignoriert die Notwendigkeit für Stabilität (Maschine
-Energie) und zukünftige Optionen (Nebel
-Energie). Es ist ein Sprint, der für einen Marathon gehalten wird.
Ziel der Störung
Den Tanz nicht beenden, sondern ihn nachhaltig machen. Den Rausch genießen, aber gleichzeitig die Ernte sichern und den Boden für die nächste Saat vorbereiten. Geplante Pausen und Realitäts-Checks einführen.
Drei kleine, sichere Störungen
Wähle eine und führe sie jetzt aus.
Störung 1: „Der Realitäts-Anruf“
Die Aktion: Unterbrich die Arbeit für 15 Minuten. Wählt eine:n echte:n, zufällige:n Kund:in oder Endnutzer:in aus und ruft sie oder ihn an.
Die Regel: Stellt nur zwei Fragen:
- „Was ist das Beste an unserem Produkt/Service?“
- „Was ist die eine Sache, die Sie am meisten nervt?“ Hört einfach nur zu. Keine Verteidigungen, keine Erklärungen. Legt auf und teilt die rohen, ungefilterten Zitate im Team.
Warum es funktioniert: Diese Störung durchbricht die interne „Flow-Bubble“ und erdet das Team mit externer Realität. Sie injiziert echte Maschine
-Energie (Daten, Fakten) und Nebel
-Energie (neue Probleme/Ideen), ohne das Momentum zu töten.
Störung 2: „Das Rezept für Magie“
Die Aktion: Nehmt euch 30 Minuten Zeit für ein Meeting mit dem Titel „Das Rezept für unsere Magie“.
Die Regel: Beantwortet gemeinsam nur eine Frage: „Wenn wir unseren aktuellen Flow wie ein Kochrezept für ein neues Team aufschreiben müssten, was wären die exakten Zutaten und die 5 Zubereitungsschritte?“ Schreibt dieses Rezept auf ein Flipchart.
Warum es funktioniert: Diese Störung zwingt das Team, sein intuitives, implizites Wissen in explizite Regeln (Governing Constraints) zu übersetzen. Es ist eine Injektion von Maschine
-Energie, die den aktuellen Erfolg für die Zukunft reproduzierbar macht und verhindert, dass die Magie einfach verpufft.
Störung 3: „Die nächste Welle planen“
Die Aktion: Blockiert ein 45-Minuten-Meeting im Kalender für morgen. Der Titel ist: „Was tun wir, wenn diese Welle bricht?“
Die Regel: In diesem Meeting ist es verboten, über das aktuelle Projekt zu sprechen. Ihr dürft nur über zwei Dinge reden:
- Wie sieht eine geplante, erholsame Pause nach dem aktuellen Hoch aus?
- Was ist die eine, kleine, spannende Sache, die wir danach als nächstes erkunden könnten?
Warum es funktioniert: Diese Störung durchbricht die „Dieser Moment dauert ewig“-Illusion. Sie zwingt das System, Regeneration (Maschine
-Energie für Wartung) und zukünftige Optionen (Nebel
-Energie) aktiv einzuplanen. Sie stellt sicher, dass nach der Welle nicht das Nichts kommt.