FN 123: Das Echo im leeren Raum

Feldnotiz

Der Strategie-Workshop ist vorbei, die Whiteboards sind voll. Für einen kurzen, fast magischen Augenblick scheint das gesamte Team dasselbe Bild zu sehen. Der Raum ist aufgeladen mit der seltenen Energie synchronisierter Klarheit.

Diese Energie entsteht nicht durch Motivations-Slogans. Sie ist das Resultat eines temporär geschaffenen, überlegenen Lagebilds. Für eine kurze Zeitspanne hat das Team die Realität durch dieselbe Linse betrachtet, die Kräfte verstanden, die seine Welt formen, und die Prioritäten destilliert. Diese Kombination aus Orientierung und Fokus ersetzt verstreute Reaktivität durch gebündelte Absicht. Es ist die Schaffung einer temporären Simulacrum von Alignment – eine Simulation, die sich für einen Moment realer anfühlt als die Realität selbst.

Wochen später ist davon oft nur ein Echo im leeren Raum übrig. Die Energie ist verflogen, der Fokus aufgelöst. Das Team fällt in alte Muster zurück. Der Glitch ist die erfolgreiche Abstoßung der Strategie als Fremdkörper durch das System. Das Verblassen der Energie war kein passiver Vorgang, sondern die aktive Immunreaktion des verborgenen Betriebssystems. Der Widerstand, wie Steven Pressfield ihn nennen würde, hat gewonnen.

Die Physik des Fortschritts: Zerstörung & Schöpfung

Strategie ist kein analytisches, sondern ein perzeptuelles Problem. Einigkeit über Worte auf einem PowerPoint-Slide bedeutet keine Übereinstimmung in der Wahrnehmung. Jede:r im Raum projiziert die eigene Landkarte aus Überzeugungen, Erfahrungen und, entscheidender, unbewussten Wünschen und Status-Ansprüchen auf den Plan. Nach dem Workshop driften diese Karten unweigerlich wieder auseinander.

Die Energie, Klarheit und der Fokus einer Organisation sind das Resultat der Balance zweier gegensätzlicher Modi, die der Militärstratege John Boyd als Destruction and Creation beschrieb – die Zerstörung alter mentaler Modelle und die Schöpfung eines neuen, geteilten Orientierungsrahmens.

  • Zerstörung (Divergenz): Die Phase der Exploration. Teams und ihre Anführer:innen blicken nach außen, stellen Annahmen infrage und zerlegen ihre bisherigen Weltbilder. Das ist der Funke, der Voraussicht und Innovation ermöglicht. Es ist der Moment, in dem die Organisation wie ein Fuchs agiert, der viele Dinge weiß und Komplexität umarmt.
  • Schöpfung (Konvergenz): Die Phase des Fokus. Die gewonnenen Einsichten werden zu einem neuen, gemeinsamen Kurs synthetisiert. Eine Hypothese wird gebildet, mit Ressourcen unterlegt und mit Disziplin verfolgt. Hier agiert die Organisation wie ein Igel, der alles auf eine große Idee ausrichtet.

Ein Ungleichgewicht führt zu systemischen Pathologien:

  • Zu viel Zerstörung: Führt zu Chaos. Viele Ideen, kein Fortschritt. Die Organisation verliert sich in der Komplexität.
  • Zu viel Schöpfung: Führt zu Rigidität. Viel Fokus, keine Anpassungsfähigkeit. Die Organisation wird blind für Veränderungen in der Umwelt.

Effektive Akteur:innen verstehen, dass ihre Aufgabe nicht die Wahl zwischen den beiden ist, sondern die Orchestrierung eines persistenten Rhythmus.

Der Workshop als Hyperrealität

Der Strategie-Workshop ist so verführerisch, weil er die Realität vereinfacht. Er schafft eine künstliche komplizierte Domäne: einen Raum, in dem Probleme analysierbar erscheinen und die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung klar ist. Expert:innen können Pläne schmieden, und es fühlt sich an, als hätten wir die Kontrolle.

Die operative Realität einer Organisation ist jedoch fast immer eine komplexe Domäne. Hier sind Ursache und Wirkung nur im Nachhinein erkennbar. Es gibt keine richtigen Antworten, nur emergente Muster. Der Versuch, einen im komplizierten Modus entworfenen Plan linear im komplexen Feld auszurollen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Karte passt nicht zum Terrain.

Der Workshop ist also nicht der Ort, an dem die Strategie entsteht. Er ist der rehearsal space, auf dem die Führungsmannschaft lernt, die Kräfte von Zerstörung und Schöpfung auszubalancieren. Die Klarheit und Energie danach stammen aus diesem Prozess, nicht aus dem PowerPoint-Deck. Die wahre Prüfung fängt an, sobald der Workshop endet und die hyperreale Simulation auf die unordentliche, komplexe Wirklichkeit trifft.

Der tiefere Glitch: das Status-Spiel unter der Oberfläche

Die Immunreaktion des Systems ist keine abstrakte Kraft. Sie wird von Menschen getragen. Die Abstoßung der neuen Strategie wird durch die verborgenen Anreize und Ängste des menschlichen Betriebssystems angetrieben. Zwei Konzepte sind hier zentral:

  1. Mimetisches Verlangen: Wir wollen nicht, was wir wollen. Wir wollen, was andere wollen. In Organisationen führt das zu einer unsichtbaren Rivalität. Die neue Strategie bedroht unweigerlich diese fragilen Gleichgewichte. Sie wertet bestimmte Fähigkeiten auf und andere ab. Sie verschiebt Ressourcen und damit Macht. Die Beteuerungen der Zustimmung im Workshop sind oft nur eine Tarnung für die sofort einsetzende, unterirdische Neuverhandlung der Hackordnung.
  2. Das Status-Spiel: Das Streben nach Status ist ein fundamentaler menschlicher Antrieb. Jede Veränderung im System ist eine potenzielle Bedrohung oder Chance im pausenlos laufenden Status-Spiel. Der Widerstand gegen eine neue Strategie ist oft keine rationale Ablehnung des Inhalts, sondern eine unbewusste Verteidigung des eigenen Status, der durch die Veränderung gefährdet scheint.

Die Immunreaktion ist also die Summe vieler einzelner, rational erscheinender Handlungen, die aber in Wahrheit dem Schutz des eigenen Status und der Navigation in mimetischen Konflikten dienen. Die Energie verblasst nicht, sie wird aktiv in dieses zweite, unsichtbare Spiel umgeleitet.

Das operative Getriebe: vier Protokolle für einen persistenten Rhythmus

Diesen Rhythmus dem Zufall zu überlassen, ist strategische Fahrlässigkeit. Es braucht ein System, das ihn erzwingt. Dieses System ist das operative Gegenmanöver zum Status-Spiel.

  1. Installiere eine Arena für strategische Steuerung. Viele Organisationen nutzen ein PMO zur Projektverfolgung. Das ist zu wenig. Du brauchst eine Struktur zur Strategie-Governance, die sich obsessiv auf die Steuerung des einen strategischen Engpasses konzentriert. Regelmäßige Reviews sind der Ort, an dem die Realität auf den Plan trifft und Entscheidungen über den Engpass erzwungen werden.
  2. Führe durch selektive Allokation. Alignment zeigt sich nicht in Worten, sondern in Entscheidungen. Wie Machiavelli wusste, ist Macht eine Frage der Anwendung, nicht des Besitzes. Was finanziert, personell ausgestattet oder ins Rampenlicht gestellt wird, signalisiert, was wirklich zählt. Jede Go/No-Go-Entscheidung ist ein brutaler Akt der Schöpfung (Konvergenz), der Klarheit verstärkt und die Prioritäten in die Realität brennt.
  3. Schütze den Raum für organisierte Zerstörung. Effektive Anführer:innen fordern keinen permanenten Konsens. Sie schaffen gezielt Momente für qualifizierten Widerspruch. Das ist mehr als eine offene Tür. Es ist die Implementierung von strukturierten Analysetechniken. Etabliere Kanäle, damit das Team aufdecken kann, was es im Feld beobachtet und was die zentralen Annahmen infrage stellt. Mache das Sammeln von abweichenden Signalen zu einer HUMINT-Operation im eigenen Haus, um Blind Spots aufzudecken, bevor der „Feind“ sie ausnutzt.
  4. Modelliere das Disagree-and-commit-Protokoll. Produktive Teams warten nicht auf Einstimmigkeit. Sie debattieren offen und verpflichten sich dann kollektiv auf den gefassten Entschluss. Dieses Protokoll, das Herzstück der Auftragstaktik, erlaubt es dem System, Annahmen unter maximalem Stress zu testen (Zerstörung), ohne die Handlungsfähigkeit zu verlieren (Schöpfung). Es erzeugt die Einheit des Handelns, nicht die Einheit der Meinung. Teams übernehmen die Verhaltensweisen ihrer Führung. Wenn du das willst, musst du es vorleben.

Das übergeordnete Ziel: Resonanz

Warum diese ganze Anstrengung? Das Ziel der Doktrin ist nicht Effizienz um der Effizienz willen. Ein perfekt geöltes, aber sinnentleertes System ist eine Dystopie. Eine rein auf Steigerung und Kontrolle optimierte Welt führt zu Entfremdung.

Der Zweck dieses operativen Rhythmus ist die Schaffung der Bedingungen für Resonanz: eine schwingende, antwortende Beziehung zwischen dem Individuum, dem Team und dem Zweck der Organisation. Ein System, in dem Agency nicht nur möglich, sondern unvermeidlich wird. Der Workshop schafft die Fähigkeit. Das Jahr danach beweist, ob sie in einer kohärenten Kultur überlebt.

Erste Schritte im eigenen Umfeld

Du brauchst kein Team oder einen Titel, um diesen Rhythmus zu trainieren. So entwickelst du ihn in deiner eigenen Praxis:

  • Erweitere dein Sichtfeld: werde zum Fuchs. Lies außerhalb deines Fachgebiets. Suche Mentor:innen, die anders denken. Zerstöre eine deiner tief gehaltenen Annahmen pro Woche. Neugier ist der Treibstoff für Divergenz, aber wirksam wird sie erst durch die bewusste Zerstörung eigener Gewissheiten.
  • Synchronisiere dein Lernen mit deinen Zielen: engagiere dich im „Theoretisieren“. Nach der Exploration, halte inne und synthetisiere. Wie Karl Weick es beschreibt, ist Theorie nicht etwas, das wir haben, sondern etwas, das wir tun. Welche Erkenntnis verändert, wie du diese Woche handelst? Reflexion ist der Konvergenz-Moment, der Neugier in Agency verwandelt.
  • Demonstriere disziplinierte Neugier. Wenn andere sehen, dass du weit explorierst und präzise handelst, gewinnst du an Gravität. Du wirst als jemand wahrgenommen, der die Balance zwischen Kreativität und Exekution meistert – die Essenz eines Capable Agent.