PR 44: Protokoll gegen die erstbeste Erklärung

Protokoll

Wir lieben die erstbeste Erklärung. Die, die sofort einleuchtet, unser Weltbild bestätigt und vor allem: die keine weitere, anstrengende Denkarbeit erfordert. Der Glitch in unserem System ist süchtig nach dieser kognitiven Abkürzung. Er schnappt sich die erste plausible Hypothese wie „Der Kunde hat nicht geantwortet, weil er kein Interesse hat“, „Das Projekt scheitert an mangelnder Disziplin“ oder „Ich bin einfach nicht für so etwas gemacht“ und zementiert sie als Realität.

Das ist die Effizienz eines Gefängnisses. Die Optimierung auf Bequemlichkeit untergräbt die Wirksamkeit.

Die Analyse konkurrierender Hypothesen (ACH), ein Standardprotokoll aus der nachrichtendienstlichen Analyse, ist das Brecheisen für diese Zelle. Es ist ein strukturierter, adversarieller Prozess, den du gegen dich selbst fährst, um deinen eigenen confirmation bias zu exekutieren.

Die Stimme der Entropie flüstert: „Viel zu aufwendig. Für den Aufwand kann ich auch einfach machen.“

Die Stimme der Agency fragt: „Machen? Oder blind in die Falle rennen, die dein eigenes System für dich gebaut hat?“

Das Protokoll basiert auf einer einzigen Einsicht: Es ist operativ wertvoller, eine Hypothese rigoros zu widerlegen, als die eigene Lieblingshypothese zu beweisen. Der Hebel liegt im konsequenten Falsifizieren.

Das Operationsprotokoll

Schritt 1: das Operationsfeld kartieren

Liste alle plausiblen Hypothesen auf, die eine Situation erklären könnten. Zwinge dich zu mindestens vier, selbst wenn eine davon absurd erscheint. Nimm die Lieblingsgeschichte deines Glitch explizit mit auf die Liste.

Beispiel: Ein wichtiges Projekt kommt nicht voran.

  1. Hypothese A: Die Teammitglieder sind unmotiviert. (Glitch-Favorit)
  2. Hypothese B: Die strategischen Ziele sind unklar und widersprüchlich.
  3. Hypothese C: Ein unsichtbarer Gatekeeper blockiert Ressourcen, weil das Projekt seine eigene Agenda gefährdet.
  4. Hypothese D: Das Projekt selbst ist die Lösung für ein falsch verstandenes Problem.

Schritt 2: Beweismittel sammeln

Sammle alle relevanten Daten, Fakten und Beobachtungen. Trenne das Signal vom Rauschen. Liste alles auf, was da ist und was nicht da ist, obwohl es da sein sollte (ein sogenanntes negatives Beweismittel, negative evidence).

Beispiel: Daten sind E-Mails, Protokolle, direkte Aussagen, auffälliges Schweigen in Meetings, messbare Leistungsdaten.

Schritt 3: Die Matrix des Unglaubens erstellen

Erstelle eine einfache Matrix. In die Spalten kommen deine Hypothesen, in die Zeilen die Beweismittel. Jetzt gehst du jedes einzelne Beweisstück durch und bewertest, ob es mit der jeweiligen Hypothese konsistent (K), inkonsistent (I) oder irrelevant (-) ist.

Beweismittel Hypothese A (Demotivation) Hypothese B (unklare Ziele) Hypothese C (Gatekeeper) Hypothese D (falsch verstandenes Problem)
E-Mail von Meier: „Wozu das alles?" K K - K
Protokoll: Budget wurde gekürzt I K K -
Beobachtung: Team arbeitet lange I - K I
negative evidence: kein Feedback vom Lenkungsausschuss - K K K

Hier findet die eigentliche Operation statt. Du bist gezwungen, jedes Beweismittel gegen jede Hypothese zu halten. Der Glitch hasst diesen Schritt, weil seine einfache Geschichte zerfällt.

Schritt 4: die widerstandsfähigste Hypothese finden

Suche nach der Hypothese mit den wenigsten Inkonsistenzen (I). Eliminiere zuerst alle Hypothesen, die am Beweismaterial scheitern. Die Zählung alleine ist dabei nicht ausreichend: Prüfe die verbleibenden Kandidaten auf Erklärungstiefe und Kohärenz. Erklärt die Hypothese nicht nur, dass etwas passiert, sondern auch, warum? Bildet sie eine stimmige Kausalkette zwischen den Beweismitteln? Welche Hypothese hat die größte prädiktive Kraft – welche generiert die präzisesten Vorhersagen und die klarsten nächsten Schritte?

Die Hypothese, die diese Kriterien am besten erfüllt, ist deine Arbeitshypothese. Oft ist es die, die du anfangs am wenigsten mochtest. Die Kunst liegt im rigorosen Eliminieren von Hypothesen, die entweder am Beweismaterial scheitern oder trotz Konsistenz keine operative Erklärungskraft haben.

In diesem Beispiel haben Hypothese B (unklare Ziele) und Hypothese C (Gatekeeper) beide null Inkonsistenzen. Die Kohärenzprüfung entscheidet: Hypothese C ist operativ stärker, weil sie auch die Beobachtung „Team arbeitet lange" schlüssig erklärt – als Symptom von Widerstand, gegen den angekämpft wird. Bei Hypothese B wäre langes Arbeiten weniger zu erwarten, wenn niemand weiß, wohin die Reise geht.

Eskalations-Protokoll: das Tetralemma

Aber was, wenn selbst ACH zu keinem klaren Ergebnis führt oder sich das gesamte Problem anfühlt, als wäre es falsch gerahmt? Das ist das Signal für einen Dimensionssprung. Hier dockt das Tetralemma an, ein Werkzeug, um den Denkrahmen selbst zu sprengen.

Wenn deine Analyse dich im Kreis führt zwischen:

  1. Das Eine: „Wir müssen das Projekt durchziehen.“
  2. Das Andere: „Wir müssen das Projekt stoppen.“

… dann zwingt dich das Tetralemma zu weiteren Positionen:

  1. Beides: „Wir ziehen Teile des Projekts durch und stoppen andere Teile.“ (Neudefinition des Umfangs)
  2. Keins von Beidem: „Die ganze Debatte über dieses Projekt ist ein Ablenkungsmanöver. Wir lösen das eigentliche Problem, indem wir etwas völlig anderes tun.“
  3. All dies nicht und auch das nicht: Der Austritt aus dem Spiel. Die Erkenntnis, dass die Frage selbst eine Falle ist oder auf falschen Prämissen beruht. Es ist der Moment, in dem du das Spielbrett umwirfst, weil es das falsche Spiel ist. Ein Akt radikaler Souveränität, der den Rahmen selbst als irrelevant entlarvt.

ACH schärft deine Analyse innerhalb der Arena. Das Tetralemma gibt dir die Fähigkeit, die Arena zu verlassen und eine neue zu bauen.

Das Unbehagen während dieses Prozesses ist kein Glitch. Es ist das Signal, dass du die Landkarte nicht mehr polierst, sondern das Territorium liest.

Das Destillat

  1. Deine erstbeste Erklärung ist eine Falle.
  2. Sammle alle alternativen Erklärungen, auch die unbequemen.
  3. Suche aktiv nach Beweisen, die deine Lieblingserklärung zerstören.
  4. Finde die Erklärung, die den meisten Fakten standhält, nicht die, die sich am besten anfühlt.
  5. Das Ziel ist Wirksamkeit, nicht die Bestätigung der eigenen Annahme.